Mit freundlicher Genehmigung der Ärztekammer Wien dürfen wir den bereits im Februar 2005 in doktorinwien erschienenen Artikel “Alles falsch, holt einen neuen Patienten – Der Umgang mit Fehlern in der Medizin” auch auf unserer Homepage publizieren.
Ein Tabu wird zum Thema. Eigentlich sollte die Medizin darauf programmiert sein, null Fehler zu produzieren. Doch leider ist das im Alltag nicht der Fall. Fehler im Krankenhaus passieren, weil mit der Komplexität der Therapie auch die Gefahr steigt, dass Patienten zu Schaden kommen. Die Ärztekammer für Wien hat sich dazu entschlossen, dieses Tabu zu brechen und das Thema mit einer großen Diskussionsveranstaltung öffentlich zu diskutieren. Denn trotz entsprechender Qualitätssicherungsprogramme passieren im Krankenhaus Systemfehler, die es zu erkennen, zu analysieren und in letzter Konsequenz zu verhindern gilt. Brigitte Biedermann berichtet von der Veranstaltung, den verschiedenen Zugängen zur Fehlervermeidung und recherchiert, warum die Medizin sich von der Luftfahrt einiges abschauen kann.
„Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. Dieses Sprichwort könnte auch bei diesem Thema wohl nicht zutreffender sein. In einem Spital arbeiten Menschen, diese können noch so hoch motiviert sein, Fehler werden immer passieren.
Gänzlich ausschalten kann man Fehler nie
Der wichtigste Ansatz zur Fehlervermeidung mittels gezieltem Qualitätsmanagement ist die vorurteilsfreie Diskussion von Komplikationen und Fehlern sowie die Eliminierung von strengen hierarchischen Strukturen. Kritisches Denken muss gefördert werden, und das gerade in der Medizin. Eine Qualitätssicherung, die in erster Linie den Arzt als Fehlerquelle ins Visier nimmt, kann nur ins Leere zielen. Ein angstfreier und offener Zugang mit Fehlern sollte im Vordergrund stehen. Nur so kann Qualitätssicherung auch wirklich greifen.
Diesen Zugang wählten auch die Teilnehmer und Besucher der Auftaktveranstaltung „Fehler im Krankenhaus“ im Rahmen der neuen Diskussionsreihe „hot doc – Diskurs ohne Censur“ .
„Was wir in Österreich brauchen ist eine geänderte Fehlerkultur sowie mehr Verständnis für die menschlichen Schwächen und Grenzen“, lautete das Eingangsstatement von Norbert Pateisky. Bei der Veranstaltung präsentierte Pateisky anhand eines anschaulichen Handy-Beispiels, wie leicht Missverständnisse in der Familie passieren können und welche Auswirkungen Kommunikationsdefizite auf mögliche Fehlersituationen haben. Passiert ein solcher Fehler in einem Spital, sind die Auswirkungen der Kommunikationsdefizite und Missverständnisse natürlich noch viel dramatischer, weil Menschen dadurch zu Schaden kommen können.
Jene Fälle, die wir aus den Medien kennen, sind allen ein Begriff. Ein Jungarzt soll ein Antibiotikum geben, in der vorliegenden Injektion befindet sich aber Olivenöl. Eine Chemotherapie wird hergerichtet, intrathekal appliziert, das Kind stirbt und der Arzt begeht daraufhin Selbstmord. Ebenfalls aus den Medien bekannt: Ein Patient wird im OP vorbereitet, der Arzt wird gewechselt und daraufhin die falsche Seite operiert.
Ursachen: Menschliche Fehler und technische Faktoren
Die Ursachen für Fehler in der Medizin sieht Pateisky in „human errors“, Teamarbeit und technischen Faktoren. Die „human errors“ teilen sich in physiologische Leistungsgrenzen, Ablenkungen sowie Stress und Zeitdruck. Fehlerquellen können auch unleserliche Schriften, Abkürzungen sowie ähnlich aussehende Medikamentenpackungen oder ähnlich klingende Namen sein. Doch am wichtigsten erscheint Pateisky das Teamwork. „Teamfaktoren sind abhängig von der Hierarchie, der Kommunikation und der Kultur.“ Die technischen Faktoren, die Fehler bedingen können, sind in erster Linie Designprobleme, die Gerätewartung und die Arbeitsbedingungen. Pateisky: „Manche medizinischen Geräte sehen einander sehr ähnlich. Wenn man unter Zeitdruck gerät, kann es schwierig sein, mit einem neuen Gerät zu arbeiten, das man vielleicht noch gar nicht kennt.“
Während man sich in den angelsächsischen Ländern schon lange mit dem Thema „Fehler im Krankenhaus“ beschäftigt, ist es bei uns noch immer weitgehend ein Tabu und wird kaum diskutiert. Die Gründe dafür sind auch in der mangelnden Fehlerkultur zu suchen.
Fehlerkultur in der Medizin
Die Gründe, warum man sich ungern mit Fehlern auseinander setzt, sind vielfältig:
- Die Bevölkerung zieht es (zum Beispiel aus Selbstschutz) vor zu glauben, dass Fehler in der Medizin selten sind.
- Ärzte und Pflegende haben Schwierigkeiten, mit eigenen Fehlern umzugehen, weil sie an sich selber hohe Ansprüche stellen und stellen müssen. Wer einen Fehler macht, wird als inkompetent angesehen.
- Auch bei uns hat die Bedrohung durch rechtliche Konsequenzen massiv zugenommen. Echte oder vermeintliche Fehler aufzudecken, kann deshalb rasch juristische Folgen haben, die bis zum Kunstfehlerprozess gehen können.
- In unserer Kultur, Erziehung und Überzeugung lernen wir, dass Fehler bestraft werden müssen. Als logische Folge tendieren wir deshalb dazu, sie so weit wie möglich zu verheimlichen.
Des Problems an sich ist sich auch die Ärzteschaft schon lange bewusst. Bereits im Jahr 1932 haben R. Stich und M. Makkas das Buch „Fehler und Gefahren bei chirurgischen Operationen“ herausgegeben. Dass das Thema erst in den letzten Jahren an Brisanz gewonnen hat, zeigt die Skala der Publikationen zum Thema „Fehler in der Medizin.“
Publikationen
bis 1980 > 826
1980-1990 > 757
1990-2000 > 1653
2000-2002 > 1074
Kein fundiertes Zahlenmaterial vorhanden
Die Durchführung großer epidemiologischer Studien zum Thema „Fehler in der Medizin“ ist außerordentlich aufwändig. Es gibt nur drei große Studien zum Thema, und keine davon stammt aus Europa. Die bedeutendste und am häufigsten zitierte Studie ist die Harvard Medical Practice Studie, die 1984 in Krankenhäusern eines US-Bundesstaates durchgeführt und 1991 publiziert wurde. Der Studienablauf erfolgte retrospektiv durch Analyse von Krankengeschichten. Interessantes Detail: Die Beurteilung von fehlerbedingten oder nicht fehlerbedingten Behandlungsfolgen variierte beträchtlich zwischen den Beobachtern.
Prinzipiell wurde zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Behandlungsfolgen („adverse events“) unterschieden. Die Trennung dieser Begriffe ist oft auch für Experten schwierig. Die Harvard Studie hat gezeigt, dass nur 50 Prozent der „adverse events“ vermeidbar und 26 Prozent fehlerbedingt waren.
Die Folgen der „adverse events“ waren in 2,6 Prozent schwere Beeinträchtigungen, bei 13,6 Prozent endete der Vorfall tödlich. Auf Grundlage dieser Daten schätzt der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger die Zahl der durch Fehler im Krankenhaus bedingten jährlicher Todesfälle in Österreich zwischen 2900 und 6800 (0,13 Prozent bis 0,3 Prozent der Krankenhausfälle). Die sehr unterschiedlichen Indikationen für stationäre Aufnahmen in Österreich und den USA wurden bei dieser Hochrechnung jedoch nicht berücksichtigt.
Gerald Bachinger, Sprecher aller Patientenanwälte Österreichs, verwies darauf, dass in Österreich in etwa 6000 Fälle jährlich an die Patientenanwaltschaften herangetragen würden. Nur 10 bis 15 Prozent davon seien nach Abschluss des Verfahrens als „definierte medizinische Behandlungsfehler“ anzusehen. Allerdings: „Was wir Patientenanwälte vorgelegt bekommen, entspricht sicherlich nicht der kompletten Realität.“ Die Dunkelziffer der Behandlungsfehler sei wesentlich höher. Trotzdem sei Panikmache der komplett falsche Weg.
Nach den Daten aus Schlichtungsstellen und Gutachter-Kommissionen führen operative Therapien am häufigsten zu einem Verfahren, in den nichtoperativen Fächern sind es die invasiven ärztlichen Maßnahmen. Die meisten gutachtlich festgestellten Fehler betreffen die Diagnostik. Schäden im Zusammenhang mit den genannten Invasivprozeduren sind häufiger durch Nachsorgemängel und Fehlindikationen verursacht als durch Fehler bei der Prozedur selbst. Auf systembedingte Schadensursachen weisen die häufigen Dispositions- und Organisationsfehler hin. Von den geltend gemachten Gesundheitsbeeinträchtigungen werden in den Verfahren etwa zwei Drittel als iatrogene Schäden, zur Hälfte durch Fehler verursacht, ausgewiesen.
Lösungsmodelle aus der Luftfahrt
Pateisky sieht die Lösung zur Fehlervermeidung in den „ultra safe technologies“ der Luftfahrt. Die Luftfahrt suche nicht nach Schuldigen, sondern nach der wirklichen Ursache eines Fehlers. Die Piloten melden ungewollte Abläufe, auch folgenlose, was viel zur Ursachenanalyse und zur Vermeidung von Schäden und Unfällen beiträgt. Die Meldenden sind dafür straffrei gestellt. Unfälle werden eingehend untersucht. Die Ergebnisse und Unfallberichte werden branchenintern bekannt gegeben. Sie dienen dazu, Schadensursachen auszuschalten.
In der Luftfahrt gibt es also sanktionsfreie Meldesysteme, anonyme „audits“, jede Menge Prozessdaten, Handbücher sowie Simulatortrainingsprogramme. Die wichtigsten Merkmale der „safety management systems“ sind die Fehlerkultur, das „human factors training“, die professionelle Fehleranalyse sowie die Schulung in „teamskills“. Alle diese Faktoren setzen jedoch vernünftige Hierarchien voraus. „Durch alle diese Systeme können Komplikationen, Schäden, Beschwerden und Rechtsansprüche vermieden werden, und in letzter Instanz bleibt auch die Versicherbarkeit erhalten“, meint Pateisky.
In der Luftfahrt gibt es also sanktionsfreie Meldesysteme, anonyme „audits“, jede Menge Prozessdaten, Handbücher sowie Simulatortrainingsprogramme. Die wichtigsten Merkmale der „safety management systems“ sind die Fehlerkultur, das „human factors training“, die professionelle Fehleranalyse sowie die Schulung in „teamskills“. Alle diese Faktoren setzen jedoch vernünftige Hierarchien voraus. „Durch alle diese Systeme können Komplikationen, Schäden, Beschwerden und Rechtsansprüche vermieden werden, und in letzter Instanz bleibt auch die Versicherbarkeit erhalten“, meint Pateisky.
Stephan Kriwanek, Chirurg an der Krankenanstalt Rudolfstiftung, kann sich dem Vorschlag Pateiskys, die Fehlermanagementsysteme der Luftfahrt auch in der Medizin einzuführen, jedoch nicht vollkommen anschließen. „In der Luftfahrt wird mit Fehlern gerechnet, die Sicherheit wird institutionalisiert, die Abläufe sind standardisiert und reglementiert und es gibt ein rigoroses Training und Überprüfungen sowie ein anonymisiertes Berichtswesen.“ Patienten seien keine Maschinen und ein Operationssaal wesentlich komplexer als ein Cockpit. Eine Standardisierung intraoperativer Entscheidungen ist häufig nicht möglich. Kriwanek: „Zwischen Anordnung und Ausführung von Maßnahmen lassen sich im Flugzeug Kontrollmechanismen problemlos zwischenschalten, beim Arzt, der operiert, geht das aber nicht.“
Einzige Ausnahme laut Kriwanek: „Auch in der Medizin gibt es gute Simulatortrainings-Programme, ähnlich jenen der Pilotenausbildung.“ Allerdings fehle in Österreich das nötige Geld für einen flächendeckenden Einsatz. Daher müsse man auf andere qualitätssichernde Maßnahmen zurückgreifen, allen voran die Etablierung eines entsprechenden Arbeitszeitkonzepts, das ausgeruhte Ärztinnen und Ärzte sichere, so Kriwanek.
Fehlerquelle Nummer eins: Mängel im System
Ungefähr ein Viertel der behandlungsbedingten Patientenschäden ist durch menschliche Fehler bedingt. Ein Teil wird durch mangelnde Sorgfalt einzelner Personen verursacht, der größte Teil aber durch Systemfehler, wie etwa bei ungenügender Berücksichtigung menschlicher Fähigkeiten und ihrer Grenzen bei Dienstplänen, Arbeitsorganisation, Anordnungen und Information.
Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass sich Fehler oft aus Faktoren ergeben, die sich unserer bewussten Kontrolle entziehen – Mängel in unserem Arbeitssystem, die geradezu dazu „verführen“, Fehler zu machen. Beispiele dafür sind falsch geplante Arbeitsabläufe, schlechte Arbeitsbedingungen oder ungenügende Ausbildung. Solch grundlegende Fehler im System zeigen sich oft erst dann, wenn sich ein den Patienten schädigender Fehler ereignet hat. Solche Fehler, die sich im System verborgen halten und sich erst unter ungünstigem oder zufälligem Zusammentreffen von Ereignissen zeigen, nennt man „latente Fehler“ („latent errors“). Es sind primär nicht erkennbare, aber schon vorher im System vorhandene Fehler, die gleichsam darauf „lauern“, sich plötzlich durch einen „überraschenden Unfall“ zu manifestieren. Weil sie lange Zeit unerkannt im System vorhanden sein können, sind sie besonders gefährlich.
Primäre Maßnahme zur Verhütung von Zwischenfällen muss deshalb sein, beim gesamten Personal Verständnis für diese Probleme zu wecken und Voraussetzungen zu schaffen, dass es Informationen über alle Fehlleistungen und Zwischenfälle gibt, und dies unabhängig davon, wie sie ausgegangen sind. Nur so kann man erkennen, wo die eigentlichen Probleme liegen, und kann eben dort ansetzen.
Die verzweifelte Suche nach Schuldigen
Sind systemimmanente Fehlerquellen erkannt, stellt sich die Frage, was getan werden kann. Entscheidend ist, dass es nicht um die Fehlleistung selbst geht, sondern auf die der Fehlleistung zugrunde liegende Ursache. Die Frage ist deshalb nicht „Wer ist schuldig?“, sondern „Wo liegt der Fehler im System?“ beziehungsweise „Wo müssen Korrekturmaßnahmen ansetzen, damit der Fehler in Zukunft nicht mehr passiert?“.
Mögliche Strategien können sein:
- Ersatz des (schlechten) Kurzzeitgedächtnisses durch den viel verlässlicheren Computer
- rasche Verfügbarkeit der entscheidenden medizinischen Patientendaten (zum Beispiel online)
- Prozesse so strukturieren, dass Fehler automatisch erkannt oder verunmöglicht werden
- Standardisierung von Arbeitsabläufen
- Verbesserung der Ausbildung
- Änderungen in der Arbeitsumgebung (Gruppendynamik, Verantwortlichkeiten, Einsatzplanung, Herabsetzung von Zeitdruck)
- Verbesserung von medizintechnischen Geräten (zum Beispiel bessere Ablesbarkeit, Anordnung der Bedienungselemente)
Eine effektive Fehlerprävention setzt also nicht beim „schuldigen“ Individuum an, sondern am zugrunde liegenden System. Das weiß auch Manuela Bartosek, Wirtschaftsmediatorin mit Spezialgebiet Konflikte im Krankenhaus. Sie verweist auf die besondere Relevanz der Unternehmenskultur in Krankenhäusern. Woran es in den österreichischen Spitälern mangle, sei die fehlende Kommunikation zwischen Abteilungsleitern und ihren Teams sowie zwischen Arzt und Patient. Bartosek: „Ein funktionierendes Team produziert nicht nur weniger Fehler am Patienten, sondern schafft auch Vertrauen untereinander und somit die Basis für eine langfristige Qualitätssicherung im Spitalsbereich.“
Die Relevanz von Kommunikationsmängeln im System sieht auch Herbert Stekel, Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Krankenhausorganisation in Wien. „Mich interessiert in erster Linie nicht, wer den Fehler gemacht hat, sondern wie man ihn zukünftig verhindern kann.“ Schadenersatzzahlungen seien zu 99 Prozent auf Kommunikationsmängel zurückzuführen. Durch geeignete Maßnahmen sei dies an seiner Abteilung am AKH Linz auf ein Zehntel reduziert worden.
Besseres Berichtswesen führt zum Ziel
Ziel eines besseren Berichtswesens sind die Warnung vor unbekannten Gefahren, die Information über neue Methoden und die zentrale Analyse. Hindernisse sind die in vielen Fällen berechtigte Angst vor Klagen, die Angst vor einem schlechten Image und den Folgekosten sowie die schlechte Nachrede von Kolleginnen und Kollegen.
Die Kennzeichen eines erfolgreichen Berichtswesens liegen auf der Hand: keine Strafen, Vertraulichkeit, Unabhängigkeit, Expertenanalyse, zeitgerechte Information, Systemorientierung. Kriwanek definiert zu dieser Frage einige Punkte und hält fest, dass „strukturelle Voraussetzungen wie ausgeruhte Ärzte durch akzeptable Arbeitszeiten und ein adäquates Qualifikationsniveau auch am Wochenende“ zur Verbesserung der Gesamtsituation beitragen würden. Die persönlichen Voraussetzungen bestehen durch die Entwicklung eines Fehlerbewusstseins, die kritische Selbsteinschätzung in Stresssituationen und das Erkennen von gefährlichem Verhalten.
Verbesserungen könnten einerseits durch die flächendeckende Einführung von Simulatortrainings erzielt werden, zum anderen könnte ein Chip, der immer mit dem Patienten geführt wird, Verwechslungen im Spitalsbereich vermeiden.
Change the system not the person!
Dieser Satz muss als Credo aller gelten, die sich ernsthaft mit der Prävention von „critical incidents“ in der Medizin befassen. Qualitätssysteme einzuführen kostet Geld, das ist allen Verantwortlichen klar. Dennoch können solche Maßnahmen Patienten schützen und sind somit keine fehlgeleitete Investition, sondern dringend notwendig. Kommunikationskultur, Teamgeist und kritisches Denken sowie das Hinterfragen von Entscheidungen höher stehender Angestellter ist auch in Spitälern gefragt und sollte offen angenommen werden. Hierarchische Strukturen und einengende Dienstauffassungen können zum Kollaps führen, gerade in einem so sensiblen Bereich wie dem Spital.
Zitate
- „Wissen und Irrtum kommen von denselben geistigen Quellen, nur der Erfolg kann sie unterscheiden.“ E. Mach
- „Uncertainty lies in the deep heart of medicine.“ J. Fox
- „Errors cannot be avoided but need to be managed.“ J. Reason
- „We cannot change the human condition, but we can change the conditions in which humans work.“ James Reason
Der Bedeutung von Qualitätssicherung bewusst, aber: „Kein Grund zur Panikmache“
Gabriele Kogelbauer, Vizepräsidentin und Kurienobfrau der angestellten Ärzte der Ärztekammer für Wien, über die besondere Bedeutung der „hot doc“-Auftaktveranstaltung „Fehler im Krankenhaus“ und die Unternehmenskultur, wie man mit Fehlern umzugehen hat.
Die Motivation, eine Diskussionsveranstaltung mit dem Thema „Fehler im Krankenhaus“ zu organisieren, war mir schon lange ein besonderes Anliegen. Die Meldungen in den Medien kennen wir alle. Konkret war es ein Vorfall im letzten Herbst in der Steiermark, bei dem ein Patient gastrektomiert wurde, daran anschließend wurde eine benigne Histologie unternommen. Die besondere Tragik an diesem Fall: Der Patient ist verstorben.
Die Betroffenheit nach diesem Vorfall können wir uns alle vorstellen und nachvollziehen. In den Medien wurde dieser Vorfall jedoch zum großen Aufreger. Fünf Ärzte wurden freigesprochen, obwohl doch ein eindeutiger Fehler mit tödlichem Ausgang passiert ist. Die Medien hielten dies für unerhört, und nur wir Spitalsärzte wissen, dass hier kein Fehler passiert ist, weil es eine maligne Histologie praeoperativ gab.
Natürlich erinnern wir uns auch noch alle an die so genannte „falsche Niere“, die im Kaiser- Franz-Josef-Spital operiert wurde und eigentlich immer die richtige war.
hot doc – Eine Veranstaltung nach innen und nach außen
Jörg Hofmann, Referent für Öffentlichkeitsarbeit, Kommunikation und Medien, formulierte die Beweggründe für die Etablierung der neuen Veranstaltungsreihe sehr eindrucksvoll. Diese Veranstaltung solle aufdecken, Themen nach innen bewusst und transparent machen und vor allem vernetzen. Und gerade mit dem Thema „Fehler im Krankenhaus“ wollten wir unter Kolleginnen und Kollegen, Patienten und Vertretern von Selbsthilfegruppen ein Bewusstsein schaffen, dass wir Spitalsärzte uns bei jeder Gelegenheit um das Thema Qualitätssicherung kümmern. Jede Dienstübergabe dient auch der Fehlervermeidung, der Fehlererkennung, und – wenn sie gut geführt wird – der Fehleraufarbeitung und Schadensbegrenzung. Man muss das Rad nicht neu erfinden, denn auf vielen Abteilungen gibt es bereits „Komplikationskonferenzen“, Sitzungen mit Hygienebeauftragten, Großgeräte-Checklisten, et cetera.
Mit „richtigen Fehlern“ oder Fehlern, die beinahe passiert sind, wird sehr unterschiedlich umgegangen. Es ist die „Unternehmenskultur“, besonders die Kommunikation, die dann sehr deutlich zu Tage tritt. Es ist ganz klar, dass ein Abteilungsvorstand mit Ärger, Verstimmung und Unverständnis, vielleicht sogar mit Sanktionen, reagiert, wenn ein Fehler passiert. Aber die Mitarbeiter können eindeutig mit einer anderen Reaktion rechnen, wenn das gesamte Team von Offenheit, Verständnis und dem Willen zur Veränderung geprägt ist.
Die nächste Herausforderung, vor der wir stehen, ist die Vernetzung. Es ist zu fordern, dass bei Fehlern im Krankenhaus beziehungsweise schon bei immer wieder vorkommenden „Beinahe-Fehlern“ eine, natürlich anonymisierte, Information zwischen Spitälern, zumindest eines gemeinsamen Trägers, gewährleistet ist.
Wir müssen das Rad nicht neu erfinden
Mit Signalwirkung nach außen wollten wir mit dieser Veranstaltung in der Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, dass wir Spitalsärzte uns um das Thema „Fehler im Krankenhaus“ kümmern und uns der Bedeutung bewusst sind. Es gibt keinen Grund zur Panikmache. Aber natürlich gibt es in allen Systemen Verbesserungspotenzial, und gerade im System des Krankenhauses, bei dem Patienten direkt betroffen sind, muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden. Alle Maßnahmen der Qualitätssicherung sollten auf die Patientenorientiertheit und Patientensicherheit überprüft werden. Meines Erachtens werden derzeit viele Ressourcen falsch eingesetzt. Investitionen wie die Zeit des Arztes für den Patienten und Teamtraining in Sachen Kommunikation sind dringend vonnöten.
In allererster Linie wollten wir aber mit der Veranstaltung dem Zustand ein Ende setzen, dass in den Medien mit falschen, das heißt durch keine statistisch belegten Daten, über Todesfälle, die aufgrund von Fehlern im Krankenhaus passieren, hantiert wird. Es ist untragbar, dass man aufgrund fehlender Studien mit Zahlen jongliert, die Jahrzehnte veraltet sind, eigentlich aus Amerika stammen und auf österreichische Verhältnisse hochgerechnet werden.
Unglücklicherweise stand bei den Berichterstattungen über die Veranstaltung sowohl in der ZIB 2 als auch in der „Presse“ die Zahl von 6800 Toten pro Jahr, die an Fehlern im Krankenhaus sterben, im Vordergrund. Der Hauptverband hat eine Zahl von 2900 bis 6800 Toten pro Jahr veröffentlicht. Aufgrund dieser Spannweiten kann man leicht erkennen, wie fiktiv die Zahlen eigentlich sind. Die Kurie der angestellten Ärzte hat dann auch den Hauptverband um Bekanntgabe aufgefordert, aus welcher Quelle diese Zahlen eigentlich stammen. Im Hörfunk ist die Berichterstattung übrigens weit differenzierter und sachkundiger verlaufen.
„Nach dieser durchaus gelungenen Auftaktveranstaltung der Diskussionsreihe „hot doc“, die durch eine interessante Diskussion auf hohem Niveau geprägt war, werden wir in diesem Sinne mit konkreten Projekten weitermachen. Ich glaube, wir befinden uns auf dem richtigen Weg.“
Vom Risikofaktor Mensch zum Sicherheitsfaktor Mensch
Das „Human-Factors-Projekt“ im Wilhelminenspital – Ein Pilot(Piloten)-Projekt der Gynäkologisch geburtshilflichen Abteilung.
Von Heinrich Salzer
Menschen machen Fehler – in der Medizin genauso wie in der Luftfahrt. Doch nicht jeder Fehler im Flugzeug führt gleich zum Absturz, und nicht jeder Fehler in der Medizin hat gleich ernste oder katastrophale Folgen. In beiden Bereichen ist nicht die Technik, sondern der Mensch, die häufigste Fehlerursache. Fehler zu vermeiden wird nie zu 100 Prozent möglich sein, jedoch aus Fehlern zu lernen ist für uns alle oberstes Gebot.
Seit vielen Jahren kennt die Luftfahrt Systeme und Techniken, um aus Fehlern zu lernen und diese zu vermeiden und so größere Probleme und Katastrophen nach Möglichkeit zu verhindern. Dazu gehören die strukturierte Fehleranalyse, das Training des Teamverhaltens, das „Human-Factors-Training“, obligatorisches „Briefing“ und „Debriefing“ sowie ein anonymes Fehlermeldesystem.
Seit September 2003 läuft an der Gynäkologisch geburtshilflichen Abteilung des Wilhelminenspitals das Projekt zum Thema „Risikomanagement und Patientensicherheit“, beraten durch zwei Flugkapitäne der Austrian Airlines (Wolfgang Müller und Leo Flammer). Das Projekt ist fokussiert auf die Vermittlung von „human factors“ und Sicherheitsmaßnahmen, begleitet von Caroline Kunz, Ärztin, Psychotherapeutin, Konfliktmediatorin und Krisenmanagerin. Ziel ist die Aufwertung des Menschen innerhalb des Gesamtsystems sowie die Schaffung einer neuen Arbeits- und Sicherheitskultur. Ein nachhaltiger Erfolg wird deshalb erzielt, weil alle miteinander arbeitenden Berufsgruppen (Ärzte, Schwestern, Hebammen, Anästhesisten, OP-Gehilfen) geschult werden und die heiklen Schnittstellen in der Ablauforganisation wie auch das Thema Kommunikation auf Fehlermöglichkeiten analysiert und professionell verbessert werden. Erste und für alle sichtbare Ergebnisse des Projekts sind Offenheit beim Umgang mit Fehlern und das Lernen aus Fehlern, ein wesentlich besseres Verständnis für die Probleme der jeweils anderen Berufsgruppe sowie gemeinsam entwickelte Regeln zur verbesserten Zusammenarbeit mit klarer Zuständigkeit und Verantwortlichkeit in den einzelnen Berufsgruppen.
Die neu gestalteten Morgen- und Mittagsbesprechungen, die jetzt mit wechselnden Moderatoren aus dem Team, strukturiert nach einer Checkliste, ablaufen, ermöglichen dem Chef und den Oberärzten eine deutlich bessere Analyse von heiklen Fällen und möglichen Fehlerquellen. Voraussetzung für das Gelingen des Projekts ist eine partnerschaftliche und vom gegenseitigen Respekt für die jeweils andere Berufsgruppe getragene Führung durch Chef und Oberschwester. Ein gemeinsames Coaching durch die Trainerin unterstützt dabei die gemeinsame Führungsarbeit.
Ein „Briefing“ vor und ein „Debriefing“ nach jeder Operation sowie eine Arbeitsgruppe „Umgang mit kritischen Ereignissen“ hat zu einem objektiven und von allen getragenen vertrauensbildenden Fehlermanagement geführt.
Weitere Ergebnisse des Projekts sind eine verbesserte und strukturiertere Ausbildung der Turnusärzte und Assistenten, ein verbessertes und erhöhtes Dokumentationsbewusstsein bei allen Mitarbeitern sowie eine Checkliste „Notsectio“, aufgeteilt auf alle beteiligten Berufsgruppen und eingeschweißt in Kärtchen, die ständig mitgeführt werden können.
Schlussendlich haben auch gemeinsam entwickelte organisatorische Strukturveränderungen zu einer Fehler minimierenden Abteilungskultur geführt. Objektive Messparameter und Indikatoren (Fragebögen, Komplikationsraten, „near misses“ und nicht zuletzt Patientenzufriedenheit vorher und nachher) sollen dem Projekt als Prozess-Steuerungsmittel zur Verfügung stehen und das Ergebnis analysierbar und publikabel machen.
Was wir tun ist innovativ, es ist von Idealismus und dem Einsatzwillen aller Beteiligten getragen, und es orientiert sich zuallererst am Menschen. Dabei benützen wir Techniken aus der Luftfahrt, die ein bewährtes Rezept haben, wie verschiedene Berufsgruppen mit höchster Verantwortung kommunikativer und fehlerfreier miteinander arbeiten können.
doktorinwien 02/2005